Mittwoch, 14. Januar 2015

Mystik praktizieren IV



Das Glaubensleben hat mit dem weltlichen Alltagsleben eines gemeinsam: Alles, was man lernt, will umgesetzt werden, sonst macht alle Mühe keinen Sinn. Bibelleen und Kirche besuchen – alles vergebene Mühe, wenn man das Gelesene oder Gehörte nicht umsetzt. So ist es auch mit der Mystik, dem einzig wahren Glaubensweg. Wie schon erwäht, hat ein Mystiker, dessen Name nicht bekannt ist, im 14. Jahrhundert den folgenden Text geschrieben und gilt heute noch als die beste und einfachste Basis zum Einstieg in die Mystik. Die Schrift „Die Wolke des Nichtwissens“ mit dem „Brief persönlicher Führung“ stelle ich in 4 Teilen zur Verfügung. Hier der letzte Teil:


Meditation reift zur Kontemplation

Kehren wir zu dem zurück, was dich persönlich betrifft und jene, die deine Gesinnung teilen.

Christus ist die Tür; was soll einer nun tun, wenn er diese Tür gefunden hat? Soll er davor stehenbleiben, ohne einzutreten? Ja, sage ich, genau das sollte er tun. Er tut gut daran, an der Tür stehenzubleiben; denn bisher führte er ein ungeordnetes Leben entsprechend seinem Eigenwillen, und seine Seele ist mit schwerem Rost bedeckt. Er sollte daher solange vor der Tür warten, bis sein Gewissen und sein geistlicher Führer darin übereinstimmen, daß nun der gröbste Rost abgeschabt ist. Vor allem muß er ein Gespür entwickeln für die verborgene Führung des Geistes in der Tiefe seines Herzens und warten, bis dieser ihn anrührt und ihm ein Zeichen gibt einzutreten. Diese verborgene Einladung des göttlichen Geistes ist das unmittelbarste und sicherste Zeichen, daß Gott einen Menschen ruft und ihn in ein höheres Leben in der Gnade der Kontemplation hereinholen möchte.

Durch Zufall mag jemand von diesem Weg der Kontemplation lesen oder hören und während seines gewohnten Gebets ein wachsendes Verlangen spüren, schon in diesem Leben tiefer mit Gott eins zu werden mittels dieser geistlichen Übung, von der er gelesen oder gehört hat. Gewiß zeigt dies, daß Gottes Gnade ihn anrührt, denn andere lesen oder hören das gleiche und werden weder bewegt, noch spüren sie während ihres Betens ein besonderes Verlangen danach. Diese tun gut daran, weiter geduldig vor der Tür zu warten. Sie sind zwar zum Heil, aber noch nicht zu seiner Fülle berufen.

Laß mich hier einen Augenblick weiter ausholen, um dich (und alle, die es lesen) auf etwas besonders Wichtiges hinzuweisen. Es gilt zwar immer, aber hier besonders, wo ich unterscheide zwischen jenen, die allgemein zum Heil, und jenen, die zu seiner Fülle berufen sind.

Es ist unwichtig, wozu du dich berufen fühlst. Wichtig ist lediglich, daß du auf deine eigene Berufung achtest und nicht streitest oder urteilst über das, was Gott im Leben anderer vorhat. Misch dich nicht in seine Angelegenheit, wen er weckt und ruft und wen nicht; ob dies früh oder spät geschieht, warum er den einen ruft und den anderen nicht. Glaube mir: Sobald du beginnst, über dieses und jenes anderer Leute zu urteilen, gerätst du auf Abwege. Beachte, was ich dir sage, und versuche, seine Bedeutung zu erfassen. Preise Gott, wenn er dich ruft, und bitte ihn, dieser Gnade vollkommen entsprechen zu können. Hat er dich noch nicht berufen, dann bitte ihn, es zu gegebener Zeit zu tun. Meine nicht, du müßtest ihm sagen, was er zu tun habe. Laß ihn gewähren. Er ist mächtig und weise und will nur das Beste für dich und alle, die ihn lieben.

Sei mit deiner eigenen Berufung zufrieden. Gleich, ob du draußen wartest in Meditation oder eintrittst durch die Kontemplation, du hast keinen Grund zur Klage, beides ist kostbar. Das erste ist gut und nötig für jedermann, doch das zweite ist besser. Greife zu, wenn du kannst; ich sollte eigentlich besser sagen: Folge, wenn seine Gnade nach dir greift und unser Herr dich ruft. Es ist richtiger, es so auszudrücken: uns selbst überlassen, mögen wir uns noch so sehr um Kontemplation bemühen, am Ende werden wir doch scheitern. Ohne ihn ist alle Mühe umsonst. Erinnere dich an sein Wort:„Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Johannes 15,5). Er will damit wohl sagen: „Wenn ich dich nicht zuerst anspreche und an mich ziehe und du dann darauf eingehst, mein Wirken in dir zuläßt und erleidest, wird mir dein Tun nicht vollkommen gefallen.“ Und du weißt ja: Die kontemplative Übung, von der ich dir schrieb, muß ihrer Natur nach Gott ganz und gar entsprechen.



Menschliches und göttliches Wirken fließen zusammen

Ich betone dies ganz bewußt, um die törichte Meinung gewisser Leute zurückzuweisen, die behaupten, der entscheidende Faktor in allem sei der Mensch, selbst bei der Kontemplation. Sie verlassen sich zu sehr auf ihren natürlichen Verstand und ihre spekulative Theologie, die behauptet, Gott stimme lediglich dem Tun des Menschen zu, und zwar auch in der Kontemplation. Doch ich möchte dir verständlich machen, daß es gerade umgekehrt ist, was die Kontemplation betrifft. Der eigentlich Handelnde ist Gott allein, und er wird in keinem Menschen tätig, der nicht zuvor die Tätigkeit seines natürlichen Verstandes, das Entwickeln von Gedanken, eingestellt hat.

Nichtsdestoweniger wirkt der Mensch bei jedem andern guten Tun mit Gott zusammen. Er setzt Verstand und Wissen auf das vorteilhafteste ein. Gott ist hier voll aktiv, jedoch in einer ganz andern Weise. Er läßt das Tun zu und unterstützt den Menschen, indem er ihm Hilfen gibt: das Licht der Heiligen Schrift, zuverlässigen Rat und das Urteil gesunden Menschenverstandes, das die Erfordernisse des eigenen Standes, des Alters und der Lebenslage im Auge hat. Tatsächlich sollte niemand bei den Aufgaben des Alltags einem spontanen Einfall folgen - mag er noch so fromm und versprechend erscheinen -, bevor er ihn nicht nüchtern im Licht dieser drei Instanzen geprüft hat.

Mit Recht erwartet man verantwortliches Handeln. Das erwartet auch die Kirche, die durch Gesetz und Dekret niemandem erlaubt, Bischof zu werden (zum höchsten Amt im aktiven Leben zu kommen), ehe sie nicht genau geprüft hat, ob er für diese Aufgabe geeignet ist.

So haben im alltäglichen Leben Verstand und Wissen (geleitet vom Licht der Heiligen Schrift, klugen Rat und gesunden Menschenverstand) verantwortliche Führung, während Gott in allem, was in den Bereich menschlichen Wissens und Erfahrens gehört, zustimmend und unterstützend tätig ist. Was jedoch die Kontemplation betrifft, muß selbst höchste menschliche Weisheit zurückbleiben. Hier ist einzig Gott der Bewirkende, hier übernimmt er allein die Führung, während der Mensch einwilligt und sein göttliches Wirken zuläßt.

So verstehe ich die Worte der Heiligen Schrift: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Im Bereich alltäglichen Lebens sind sie anders zu verstehen als im Bereich der Kontemplation. Alles Handeln, ob gottgefällig oder nicht, geschieht mit ihm. Er willigt ein und läßt es geschehen. Dagegen übernimmt er in der kontemplativen Übung die Führung und erwartet, daß nun der Mensch seinerseits einwilligt und sein Wirken zuläßt. Grundsätzlich gilt: Ohne ihn können wir nichts tun, nichts Gutes oder Böses, nichts im aktiven und nichts im kontemplativen Leben.

Ehe ich zu einem anderen Thema übergehe, möchte ich noch erwähnen, daß Gott mitwirkt, auch wenn wir Böses tun. Er unterstützt uns zwar nicht darin, aber er gibt uns die Freiheit der Entscheidung, selbst für das Böse. Ja, so viel Freiheit, daß wir in unser eigenes Verderben rennen können, wenn wir das einer ehrlichen Reue vorziehen.

Dagegen läßt er unser gutes Handeln nicht nur zu, sondern er unterstützt uns: zu unserm Verdienst, wenn wir vorankommen, und zu unserer Beschämung, wenn wir zurückfallen. Doch was die Kontemplation betrifft, ist er die eigentlich treibende Kraft. Erst weckt er uns, um dann als Meister in uns zu wirken, indem er uns zur höchsten Vollendung führt kraft der geistlichen Vereinigung mit sich in verzehrender Liebe.

Wenn unser Herr sagt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“, meint er jeden Menschen. Denn jeder gehört zu einer der drei Gruppen: Sünder, christlich Lebende und Kontemplative. In Sündern ist er dem Wesen nach gegenwärtig und gibt ihnen die Freiheit, nach eigenem Ermessen zu handeln. In denen, die christlich leben, ist er auch gegenwärtig, läßt ihnen jedoch nicht nur die Freiheit zu handeln, sondern unterstützt sie dabei. In den Kontemplativen schließlich ist er der entscheidend Wirkende. Er weckt sie und leitet sie in diesem göttlichen Werk der Liebe.

Nun habe ich viele Worte gemacht und wenig gesagt. Also, ich wollte dir verständlich machen, wann du deine Denkfähigkeit gebrauchen sollst und wann nicht, wie Gott in dir wirkt, wenn du sie einsetzest, und wie er wirkt, wenn du es unterläßt. Das war wichtig für dich. Das Wissen um diese Dinge kann dich vor manchem Fehler bewahren. Laß es einfach so stehen, obwohl es nicht besonders wichtig ist für unsere Sache, der wir uns jetzt wieder zuwenden sollten.

II. Die Anzeichen der Berufung

Woran man sie erkennt

Nach allem, was ich bisher über die zwei Arten der Berufung gesagt habe, möchtest du vielleicht fragen: Gibt es denn Zeichen, die mich erkennen lassen, was dieses wachsende Verlangen nach kontemplativem Gebet für mich bedeutet und was es mit dieser inneren Begeisterung auf sich hat, die mich packt, wenn ich davon höre oder darüber lese? Ruft Gott mich wirklich durch sie zu einem intensiveren Gnadenleben, wie du es in diesem Buch beschrieben hast, oder gewährt er sie mir als Nahrung und Stärkung, damit ich geduldig warte und auf dem gewöhnlichen Weg weitergehe, den du die „Tür“ und den „allgemeinen” Weg für alle Christen nennst?

Ich will dir antworten, so gut ich kann. Ich nannte dir zwei Merkmale, an denen du erkennen kannst, ob Gott dich zur Kontemplation ruft oder nicht. Meiner Überzeugung nach reicht eines dieser Zeichen allein nicht aus als Beweis für eine Berufung zur Kontemplation. Beide müssen übereinstimmen und das gleiche anzeigen, bevor du dich darauf verlassen kannst, ohne Gefahr zu laufen, dich zu verirren. Das innere Zeichen besteht in jenem wachsenden Verlangen nach kontemplativem Gebet, das ständig einsickert in dein tägliches Beten. Soviel kann ich dir darüber sagen: Es ist ein unbewußtes Sehnen der Seele, begleitet von einer Art innerem Antrieb, der das Verlangen lebendig hält und es wachsen läßt. Diese Sehnsucht nenne ich unbewußt, weil sie den unbewußten Bewegungen des Körpers - z. B. im Gehen und Tasten - ähnlich ist, die ja instinktiv gesteuert werden und daher „unbewusst“ genannt werden können. Achte also sorgfältig darauf, was bei deinen täglichen Gebetsübungen geschieht. Sind sie angefüllt mit Erinnerungen an deine eigene Sündhaftigkeit und an das Leiden Jesu oder was sonst täglich zum christlichen Beten gehört, dann weißt du: Dieser innere Antrieb, der das unbewußte Verlangen begleitet oder ihm folgt, entstammt einer normalen Gnade. Dies ist ein sicheres Zeichen, daß Gott dich noch nicht anspricht und zu einem vertrauteren Leben mit sich ruft. Vielmehr stärkt und nährt er dich durch diese Sehnsucht, damit du geduldig wartest und kraft normaler Berufung weiterarbeitest.

Das zweite Zeichen ist ein äußeres. Es zeigt sich als freudige Erregung, die in dir aufbricht, sobald du vom kontemplativen Leben hörst oder etwas darüber liest. Dieses Merkmal nenne ich deshalb ein äußeres, weil die Verursachung von außen kommt und durch die Fenster deiner leiblichen Sinne beim Lesen in dein Denken. Die Echtheit des Zeichens erkennst du daran, ob diese freudige Stimmung nach dem Lesen und Hören bleibt. Läßt sie gleich oder bald darauf nach und bleibt sie nicht in allem, was du tust, weißt du: Dies war keine besondere Berührung der Gnade. Begleitet sie dich nicht im Wachen und Schlafen, eilt sie dir nicht ständig voraus und drängt sie sich nicht in alles, was du tust, entfacht sie nicht deine Sehnsucht und nimmt sie gefangen, dann sei gewiß, daß Gott dich nicht zu einem vertrauteren Leben mit sich ruft, d. h. nicht über das hinaus, was ich die „normale Tür“ und den „Weg für alle” Christen genannt habe. Die Flüchtigkeit dieser Erfahrung zeigt, daß es nur natürliche Freude war, die jeder spürt, wenn er von der Glaubenswirklichkeit hört oder darüber liest, was besonders der Fall ist bei einer

Glaubenswahrheit, die so tief und ausführlich von Gott und der Vollendung des menschlichen Geistes spricht.

Zeichen für die Echtheit

Packt dich aber nun diese freudige Erregung beim Lesen und Hören vom kontemplativen Leben, ist dies der Ruf Gottes an dich zu einem vertrauteren Leben mit ihm. Du kannst das schwerlich übersehen. Diese Freude ist so stark, daß sie dich überallhin begleitet, ob du schlafengehst oder aufstehst. Sie begleitet dich den ganzen Tag hindurch, gleich, was du tust. Sie drängt sich in deine täglichen Gebete und stellt sich wie eine Mauer zwischen diese und dich. Sie stellt sich fast gleichzeitig mit der „spontanen“ Sehnsucht ein, die inzwischen unbemerkt an Stärke gewonnen hat. Die Erregung der Freude und dieses Verlangen sind nun nicht mehr zu unterscheiden. Du empfindest sie wie ein einziges sehnendes Verlangen und weißt doch nicht, wonach du dich sehnst.

Du wirst völlig verändert. Dein Gesicht leuchtet vor innerer Schönheit, und nichts kann dich erschüttern, solange du in diesem Zustand bist. Um mit jemandem darüber zu reden, der das gleiche erfahren hat, würdest du eine lange Reise in Kauf nehmen. Doch bei ihm angekommen, wüßtest du nicht, was du sagen solltest. Was andere darüber denken und reden, kümmert dich nicht. Deine einzige Freude wäre es, von deiner Erfahrung zu sprechen. Du wirst wenig sagen, doch deine Worte sind voll Kraft und Glut. Das wenige, was du sagst, enthält eine Welt voll Weisheit - obwohl es denen als Unsinn erscheint, die nicht über die Grenzen ihres Denkens hinauskommen. Dein Schweigen wird tief sein, deine Rede voll Kraft und dein Gebet tief verborgen in der Mitte deines Seins. Ohne Täuschung wirst du dich so erkennen, wie du bist. Im Umgang mit anderen wirst du nachsichtig, dein Lachen wird froh, denn du kannst dich wie ein Kind von Herzen über alles freuen. Du wirst gern allein sein, weil du merkst, daß andere, die deine Sehnsucht und Liebe nicht teilen, dich nur stören. Bücher magst du nicht mehr lesen. Du willst nur noch hören von dem, was in dir vorgeht. Die wachsende Sehnsucht nach Versunkenheit und die bebende Freude, die dich befallen, wenn du darüber liest oder hörst, verschmelzen ineinander. Die beiden Kennzeichen - das innere und das äußere - stimmen nun überein. Jetzt sind sie gültiger Beweis für Gottes Ruf, durch die Tür einzutreten und ein vertrauteres Leben der Liebe mit ihm zu beginnen.

Das innere Hoch und das innere Tief

Du wirst bald aus eigener Erfahrung wissen, daß es stimmt, was ich dir über die beiden Anzeichen und ihre schwer darzustellenden Wirkungen geschrieben habe. Aber kaum hast du vielleicht eine oder alle Wirkungen erlebt, schwinden sie plötzlich und lassen dich wie leer zurück. Leer ist gar kein Ausdruck für dein Empfinden. Dein neuer Schwung ist wie weggeblasen. Selbst meditieren kannst du nicht mehr, trotz deiner langen Übung darin. Was nun? Du glaubst, zwischen die beiden Wege geraten zu sein. Keiner ist mehr der deine, nach beiden suchst du. Wenn dies eintritt, verliere nicht den Mut. Halte durch und warte geduldig auf Gottes Wirken in dir. Du bist jetzt auf einer Art geistigen Ozeans, auf der Reise von einem Leben unter der Führung deines Eigenwillens zu einem Leben unter der Führung des Geistes Gottes. Mit Sicherheit kommen auf dieser Reise heftige Stürme und Gefahren auf. Du weißt dann nicht mehr, wo du bist, völlig ausgeliefert, und weißt nicht, wo du Hilfe suchen sollst. Du fühlst dich von allen verlassen, spürst weder die Hilfe der gewöhnlichen noch der besonderen Gnade. Trotz allem: Hab keine Angst! Du meinst zwar, deine Angst wäre begründet. Laß dich dennoch nicht in Panik treiben, sondern vertraue einfach auf den Herrn. Versuche es jedenfalls, so gut es unter diesen Umständen geht. Gott ist nicht weit, er kann sich dir in jedem Augenblick wieder zuwenden, dich mächtiger ergreifen, als er es in der Vergangenheit je getan hat, und so die Gnade der Kontemplation neu aufleben lassen. Solange dieses Glück währt, glaubst du dich geheilt und alles sei in Ordnung. Wenn du es aber am wenigsten erwartest, verläßt es dich. Wieder fühlst du dich allein in deinem Schiff, von Winden hin- und hergetrieben, du weißt nicht wohin. Verliere trotzdem nicht den Mut! Ich verspreche dir: Er kommt zurück, wenn er meint, es sei Zeit. Mächtiger und wunderbarer als je zuvor wird Gott dir zu Hilfe kommen und dich von deiner Qual befreien. Sooft Gott fortgeht, sooft kehrt er auch zurück.

Nimmst du seine Abwesenheit tapfer und gelassen hin, wird jedes neue Kommen trostvoller und freudvoller sein als das vorherige. Merke dir: Was Gott tut, geschieht aus weiser Absicht. Er möchte, daß du geistig schmiegsam wirst, dich seinem Willen anschmiegst wie ein feiner Handschuh aus Saffian der Hand. So wird er gehen und kommen, dich durch seine An- und Abwesenheit reicher und reifer machen, dir Form geben und dich in der verborgenen Tiefe deiner Seele für sein Wirken öffnen. Fehlt dir jeder innere Schwung, so möchte er dich Geduld lehren, denn kaum ist diese Hochstimmung geschwunden, glaubst du, ihn selber verloren zuhaben. Das stimmt aber nicht. Er möchte dich nur Geduld lehren. Sei dir darüber klar: Gott entzieht zeitweise beglückende Gefühle, inneren Schwung und brennendes Verlangen. Doch wird er seine Erwählten nie ohne Hilfe lassen, es sei denn, sie sündigten schwer. Verwechsle nicht Glücksempfindungen, Begeisterung und Verlangen mit der Gnade selbst. Sie sind nur deren Anzeichen. Er entzieht sie uns manchmal, um unsere Geduld zu stärken oder aus anderen Gründen, doch immer zu unserem Besten. Dem entspricht die Führung der Zen-Meister. Schmelzende Gefühle, tiefer Friede, große Klarheit - auch sie müssen losgelassen werden. Andernfalls halten sie das Vorankommen, das Erreichen des anderen Ufers auf.

Dies alles werden wir nie ganz verstehen. Seine Gnade ist in sich so erhaben, so rein und geistig, daß unsere Sinne sie nicht erfassen können. Was die Sinne und Empfindungen wahrnehmen, sind lediglich Zeichen der Gnade, aber nicht Gnade selbst. Also: Hin und wieder entzieht unser Herr uns diese Anzeichen, um unsere Geduld zu stärken und sie reifen zu lassen. Es gibt noch andere Gründe, die ich dir jetzt nicht nennen möchte. Laß uns zu unserem Thema zurückkehren.

Das Ziel

Du nennst die Glücksempfindungen das „Kommen des Herrn“. Genaugenommen ist das falsch. Damit du in Gottes Liebe und seinem Dienst durchhalten kannst, nährt und stärkt er dich durch die Größe, Häufigkeit und Steigerung der Geschenke, die die Gnade begleiten. Er arbeitet an dir in zweierlei Weise: Nimmt er dir die Geschenke, lernst du Geduld. Gibt er sie dir, wirst du gestärkt mit lebenspendender Nahrung. So gestaltet er dich auf zweifache Weise, bis du so schmiegsam und formbar bist, daß er dich zu guter Letzt zur geistlichen Vollendung führen kann in die Einheit mit seinem Willen, in vollkommener Liebe. Du wirst dann genau so bereitwillig auf seinen Trost verzichten als dich seiner erfreuen, wenn er es so will.

In dieser Zeit des Leidens wird deine Liebe lauter und reif werden. Du wirst Gott, deine Liebe, erkennen. Geistig eins geworden in der Liebe, wirst du ihn unverhüllt in der innersten Tiefe deines Geistes erfahren. Völlig entblößt von deinem Selbst und einzig in ihn gehüllt, wirst du ihn erkennen, wie er ist, ohne Trübung durch Glücksempfindungen, wären es auch die beglückendsten und höchsten, die auf Erden möglich sind. Dieses Erkennen ist dunkel, weil es in diesem Leben so sein muß. Doch in der klaren Lauterkeit deines ungeteilten Herzens, fern von Wahn und Irrtum, dem jeder ausgesetzt ist, wirst du spüren und erkennen, fern jeder Täuschung, daß es Gott selbst ist, so wie er wirklich ist. Der Mensch, der Gott in seiner unverhüllten Wirklichkeit schaut und erfährt, ist darin von Gott so wenig getrennt wie Gott selber von seinem eigenen Sein, das eines ist in Wesen und Natur. Wie Gott eins ist mit seinem Sein aufgrund seiner Natur, so ist die Seele, die ihn schaut und erkennt, eins mit ihm, jedoch aufgrund der Gnade.

Die Entscheidung

Das waren also die Anzeichen, die ich dir nennen sollte. Mit etwas Übung wirst du das innere Anzeichen, die Einladung und Anregung der Gnade während deiner geistlichen Übungen entdecken. Du wirst auch das äußere Anzeichen entdecken, und zwar jedesmal, wenn du von Kontemplation hörst oder darüber liest. Meist werden nur wenige Menschen derart eindeutig gerufen und in ihrer Berufung zum kontemplativen Leben bestätigt, daß sie bereits am Anfang unmittelbar und ursprünglich alle Anzeichen gleichzeitig erkennen. Falls du glaubst, eines oder beide dieser Anzeichen wahrzunehmen, prüfe dich mit Hilfe der Heiligen Schrift, deines geistlichen Führers und deines Gewissens. Glaubst du, sie stimmen überein, ist es Zeit für dich, alles Nachdenken und bildhafte Meditieren über dich und Gott, über dein und sein Tun aufzugeben. Früher haben sie deiner Erkenntnis geholfen. Sie führten dich aus einem gottfernen und erdverhafteten Leben bis zur Schwelle der Kontemplation. Vorstellung und Denken haben nun das Ihrige getan. Jetzt mußt du lernen, in die einfache, bildlose Schau des Seins deiner selbst und Gottes einzutauchen.

Die schwierige Einfachheit

Im Leben Jesu finden wir eine gute Erläuterung für das, was ich bisher auszuführen suchte. Gäbe es für uns nichts Größeres, als Jesus in seinem Menschsein anzuschauen und zu lieben, ich glaube nicht, daß er in den Himmel aufgefahren wäre. Er hätte sicher nicht seinen Freunden, die ihn innig liebten, seine leibhafte Gegenwart entzogen. Uns ist jedoch in diesem Leben Größeres möglich, nämlich die reine geistige Erfahrung, ihn in seiner Gottheit zu lieben. Seine Freunde verzichteten ungern auf seine leibliche Gegenwart, genauso ungern wie du auf bildhaftes Meditieren und forschendes Denken verzichtest. Daher sagte Jesus seinen Freunden: „Es ist gut für euch, daß ich fortgehe“ – das heißt, es ist notwendig, daß ich mich leiblich von euch trenne. Der Kirchenlehrer Augustinus gibt dazu folgende Erklärung: „Hätte Jesus sein Menschsein nicht unseren leiblichen Augen entzogen, würden sich unsere geistigen Augen nicht voll Liebe auf seine Gottheit richten.“ Darum sage ich dir: Zu einem bestimmten Zeitpunkt ist es einfach notwendig, mit nachdenkendem Betrachten aufzuhören, um etwas von dieser tiefengeistlichen Erfahrung Gottes zu kosten. Verläßt du dich auf Gottes Hilfe, die dich leitet und führt, und gehst

du auf dem Weg, den ich dir beschrieb, wirst du in der Tiefe deines Herzens seine Liebe erfahren. Das heißt für dich: Strebe immer und zu jeder Zeit die bildlose Schau deines nackten Seins an, und bring Gott unaufhörlich dein reines Sein als kostbares Geschenk dar. Nochmals erinnere ich dich: Sieh zu, daß alles wirklich bildlos ist, sonst ist es falsch. Je bildloser diese Schau, um so anstrengender ist es anfangs für dich, längere Zeit darin zu bleiben. Deine Sinne und dein Verstand finden eben keine Nahrung mehr. Aber das schadet nichts. Ehrlich, ich freue mich sogar darüber. Mach weiter, laß sie fasten. Selbstverständlich hat jeder einen natürlichen Hunger nach Wissen. Dennoch stimmt: Wissen, mag es noch so groß sein, führt niemanden zur geistigen Erfahrung Gottes. Dieses Erkennen ist reines Geschenk. Darum bitte ich dich: Zieh die Erfahrung dem Bescheidwissen vor. Der Stolz des Wissens kann dich blenden; doch diese zarte und liebende Zuneigung wird dich nicht täuschen. Wissen bläht auf, Liebe aber baut auf. Wissen ist verbunden mit Mühe, Liebe aber mit Frieden und Ruhe.

Die Mühe lohnt sich

„Ruhe?“ wirst du fragen. „Wovon redet er nur? Ich empfinde nichts als Mühe und Schmerz, aber keine Ruhe. Versuche ich seinem Rat zu folgen, gibt es nur Leid und Anstrengung für mich. Auf der einen Seite bedrängen mich Sinne und Verstand, diese Übung abzubrechen. Ich gebe aber nicht nach. Auf der anderen Seite sehne ich mich danach, die dunkle Wahrnehmung meiner Selbst hergeben zu können, um nur Gott allein zu erfahren. Es gelingt mir aber nicht. Kampf und Schmerz bestürmen mich von beiden Seiten. Wie kannst du da von Ruhe sprechen? Wenn das Ruhe ist, ist es eine sonderbare Ruhe?“

Meine Antwort ist einfach: Diese Versenkung ist anstrengend für dich, weil du noch nicht genügend geübt bist. Wärest du daran gewöhnt und hättest du ihren Wert erkannt, du tauschtest sie niemals gegen alle irdischen Freuden und alles Ausruhen in der Welt. Ich weiß, das Üben ist anstrengend und schmerzlich. Trotzdem nenne ich es Ausruhen, weil deine Seele umhüllt ist von Frieden, frei von Unsicherheit und Sorge um das, was du zu tun hättest. Hinzukommt diese innere Gewißheit während dieses Betens, daß du auf einem sicheren Weg bist.

Halte durch, gelassen und voller Sehnsucht. Die Schau Gottes beginnt hier auf Erden und wird in alle Ewigkeit an kein Ende kommen. Ich bitte Jesus, dich und alle, die er mit seinem kostbaren Blut freigekauft hat, in dieses herrliche Leben zu führen.



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